Indien ist mit 1,1 Milliarden Einwohnern nach China das zweitgrößte Land der Erde, wenn man die Bevölkerungszahl betrachtet. Nach offiziellen Prognosen wird Indien bis 2050 China als bevölkerungsreichstes Land ablösen. Darüber hinaus besitzt Indien nach China die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt. Zwischen 2002 und 2007 wuchs die Volkswirtschaft in jedem Jahr um rund 9 Prozent. Selbst in den Krisenjahren 2008/09 und 2009/10 betrug das Wirtschaftswachstum 6,7 bzw. 7,2 Prozent. Indiens Bruttoinlandsprodukt lag 2009 bei rund 1.235 Milliarden US-Dollar, hat damit von der Größe seiner Volkswirtschaft Russland überholt und liegt im weltweiten Vergleich der BIPs auf Rang 11.
Trotz dieses rasanten Wachstums im vergangenen Jahrzehnt hat sich die soziale Situation der großen Mehrheit der Inder nur wenig verbessert. Das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt ca. 815 US-Dollar. Beim Human Development Index des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) rangiert Indien weit entfernt von den Top Ten auf Rang 132 von 177 Ländern. Bei zahlreichen Sozialindikatoren liegt Indien unter dem Durchschnitt der ärmsten Länder Afrikas aus der Subsahara-Region. Besonders auf dem Land, wo – trotz der Abwanderung in die Städte – immer noch 70 Prozent der Bevölkerung leben, haben die Realeinkommen stagniert. Der BIP-Anteil der Landwirtschaft sinkt seit Jahren kontinuierlich und beträgt nur noch 17,1 Prozent. Angesichts gravierenden Kapitalmangels, viel zu kleiner Anbauflächen, stagnierender Erträge und fehlender Absatzstrukturen bleibt der Sektor, von dem weiterhin über die Hälfte aller Inder direkt abhängen, Beschäftigungsanteil 52 Prozent, ein ernsthaftes wirtschaftliches und soziales Problem, das durch die positiven Entwicklungen im industriellen und im Dienstleistungssektor in keiner Weise gemindert wird. Ein weiteres grundsätzliches Problem der indischen Wirtschaft wird durch die guten Wachstumsraten verdeckt: Nur ca. 8 Prozent aller Beschäftigten stehen in einem vertraglich geregelten Arbeitsverhältnis. Die übrigen 92 Prozent, das sind 320 Millionen Menschen, werden dem sog. „informellen Sektor“ zugerechnet – sie sind weder gegen Krankheit oder Arbeitsunfälle abgesichert, noch haben sie Anspruch auf soziale Leistungen oder Altersversicherung.
Steffen Wagner