(v.l.n.r.) Charles, Igor, Henrique, Eliandro, Uli und Diogenes
Wir waren bisher in drei Favelas – tagsüber – und wir fühlten uns sicher. Mit Marcio filmten wir in einer Favela in Niterio und mit Cristiane in ihrer Favela oberhalb der Copacabana. Hier fielen uns lediglich eine Gruppe Polizisten auf, die mit Maschinenpistolen „Wache“ standen. Am Donnerstag schließlich filmten wir in der kleinen Favela Julio Ontoni im Stadtteil Santa Theresa. Wir fingen an, die Horrorgeschichten über die Drogenbosse als Übertreibung anzusehen. Bis Cristiane einen Termin platzen ließ und uns telefonisch mitteilte, dass es eine Schießerei in ihrer Favela gegeben hätte und sie sich noch nicht auf die Straße trauen würde. Also doch: Die Macht der Gewalt in den Elendsvierteln ist real.
Am Samstagabend besuchten wir mit dem Sozialarbeiter Charles die Favela „Prazeres“. Von dort oben hat man einen beeindruckenden Ausblick auf das glitzernde Häusermeer der Metropole und auch sonst wirkte alles friedlich. An einem Kiosk wurde Bier getrunken, geschwatzt und gelacht. In einer Turnhalle mit Maschendraht als „Fenster“ übte eine Gruppe Jugendlicher einen Formationstanz. Und da saßen an drei Tischen, von denen man den besten Blick auf Rio hatte, Jugendliche in ihren Fußballtrikots. So weit, so gut. Nur, dass einer von ihnen ein Sturmgewehr umgehängt hatte, ein anderer sich lässig auf seine abgesägte Schrottflinte stützte. Am Nebentisch eine andere Gruppe Jugendlicher, von denen einer scheinbar gedankenverloren an seiner Pistole herumfingerte. Dazwischen liefen Kinder herum, Ältere kamen vorbei, grüßten, gingen weiter, um ein weiteres Bier zu holen. Charles erklärte uns, dass die Waffenträger nur die Hilfstruppen der Bosse seien. Sie sind dafür verantwortlich, dass die alltäglichen Drogengeschäfte hier „sicher“ abgewickelt werden. Ein Journalist, der eine Übergabe heimlich filmte, ist kürzlich zerstückelt wiedergefunden worden.
Wir waren irritiert und eingeschüchtert. Und wir begannen zu begreifen: In den Favelas ist Gewalt so normal wie kaltes Bier, ist der Terror zwischen Polizei, Drogendealern und Gangstern untereinander Alltag. Es ist schlimmer als in den „Horrorgeschichten“. Es ist die Gewöhnung an den Terror, das Akzeptieren der ständigen Bedrohung, die Demonstration, dass Dein Leben sofort vorbei ist, wenn es einem durchgeknallten Crackdealer gefällt.
Am Sonntag waren wir noch einmal in der Favela Morro dos Prazeres, weil Charles uns seine Video Gruppe vorstellen wollte und selber einen Film drehen möchte über das Leben in den Favelas aus Sicht der Jugendlichen. Seine Idee finden wir klasse und wollen sie unterstützen. Bisher haben wir alles aus unserer europäischen Perspektive betrachtet. In Zukunft sollen Charles und sein Galera-Team ihre Bilder, ihre Wahrheit liefern. Unser Mini-workshop soll ihnen dabei helfen.
Charles arbeitet seit 7 Jahren in der Favela Prazeres und seit zwei Jahren in der benachbarten Favela Julio Otoni. Der Sozialarbeiter „tanzt“ also in zwei Favelas. Wieso „tanzt“? Nun, Charles hat eine interessante Biographie. Er stammt aus dem Norden Brasiliens, kommt aus einer Familie mit 10 Kindern und ist nach Rio zugewandert. Er hat eine Banklehre gemacht und als Banker gearbeitet. Gleichzeitig ist er begeisterter Tänzer und mit seiner Tanzgruppe auch schon in München aufgetreten. Irgendwann hat er sich dann entschieden, die bürgerliche Karriere an den Nagel zu hängen und ist seitdem mit Herz und Seele Sozialarbeiter für Kinder und Jungendliche. Er will ihnen Alternativen zur normalen Favela-Karriere (Drogendealer, Putzfrau, Schuhputzer, Müllsammler an den Touristenstränden, etc.) aufzeigen.
Die kleinere Favela Julio Otoni (ca. 1000 Bewohner) ist im Moment ohne „Regierung“. Die lokalen Dealer sind verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. In der größeren Favela Prazeres (ca. 7000 Bewohner) ist die Macht der Dealer ungefährdet. Hier ist jede Aktivität abhängig von der Zustimmung der „Prinzipals“, wie Charles sie nennt. So war es selbstverständlich, dass Charles erst den obersten Boss um Erlaubnis fragen musste, bevor wir in die Favela durften.
Die brasilianische Gesellschaft hat die Menschen in den Elendsquartieren sich selbst überlassen. Es ist zwingend, dass sich dann „eigene“ Machtstrukturen herausbilden. „Economy, stupid“ würde Clinton jetzt sagen. D.h. konkret, dass natürlich die die Macht haben, die das meiste Geld haben, also die Drogendealer. Da ist es nur zu verständlich, dass viele Jugendliche lieber für Drogendealer arbeiten, als auf den staatlichen Mindestlohn von 260 Dollar im Monat angewiesen zu sein. Einen solchen potentiellen Arbeitgeber verrät man nicht! Für Charles ist die Arbeit in der Favela ein ständiger Drahtseilakt. Er will den Jugendlichen eine Alternative schmackhaft machen, darf aber die Macht der Gewehre, die Brutalität und Aggressivität der Machos mit Pistolen nicht wirklich in Frage stellen. So wirkte es schon grotesk, dass wir bei unseren Dreharbeiten in der Favela im Zusammenhang mit unserem „workshop“ für die Videogruppe, ständig unter Aufsicht waren und jede Einstellung von „Kontrolleuren“ abgenickt werden musste. Ein klares „No No“ waren Bilder vom „Umschlagplatz“ der Drogen mit Dealern und Gewehren. Als wir die Favela gerade verließen, bat der „diensthabende“ Dealer höflich um eine Kopie des Materials…
Uli Schwarz und Petra Dilthey