Menschen, die im Slum leben, haben immer Arbeit. Sie können es sich gar nicht leisten, nicht zu arbeiten – dann würden sie verhungern. Diese soziale Realität hat ihre Wurzeln in der Tatsache, dass Menschen im Slum besitzlos sind und bleiben. Sie können von dem Platz, an dem sie leben und aus der Behausung, in der sie wohnen, jederzeit vertrieben werden. In den Slums von Vijayawada verdienen die Slumbewohner ihren Lebensunterhalt vor allem durch Sammeln und den Handel. Sie sammeln Schrott, Altmetall, alles Weggeworfene von dem sie wissen, dass sie es später verkaufen können. Die Slumbewohner haben eine Notfallstrategie zum Überleben entwickelt, die jeden einzelnen zu einer Art Kleinstunternehmer macht, der alles wiederverwertet, um zu überleben.
Dabei spezialisieren sie sich und haben innerhalb des Müllgeschäftes eigene Nischen gefunden. Ein Slumbewohner zum Beispiel kauft Formsande, Schlacken und sonstige mineralische Abfälle aus großen metallverarbeitenden Betrieben, um die Eisenstückchen heraus filtern zu lassen. Der so gewonnene metallhaltige Sand wird dann zum höheren Preis weiterverkauft. Ein anderer Kollege hat sich auf Plastik spezialisiert, wieder andere auf Papier, Flachglas und Windschutzscheiben von Autos. In allen Slums arbeiten die Menschen also als Kleinstunternehmer, zusätzlich aber auch als ungelernte Arbeiter oder Händler. Denn viele haben an einem Tag gleich mehrere Jobs: Morgens zwischen 5 und 7 arbeiten sie als Müllsammler und sind als selbständige Unternehmer unterwegs. Nach dem Frühstück arbeiten sie dann entweder als Tagelöhner in einem der „offiziellen“ Betriebe zum Ent- oder Beladen von LKWs oder sie arbeiten für die wenigen Arbeitgeber im Slum.
Die Slumbewohner gehören aber nicht zur ärmsten Bevölkerungsschicht. Die 28 Prozent der indischen Bevölkerung, deren Einkommen unter der offiziellen Armutsgrenze von 1 US-Dollar pro Tag liegt, leben auf dem Land. Die indische Regierung geht davon aus, dass das tägliche Pro-Kopf-Einkommen eines Slumbewohners mehr als 2 US-Dollar beträgt.
Es ist beeindruckend zu sehen, dass alle im Slum eigenverantwortlich denken und handeln müssen, um zu überleben. Es gibt keinen Staat, der als Versorgungsinstitut dafür zuständig ist, ein wie auch immer funktionierendes Netz sozialer Leistungen zu knüpfen. Indiens Slumbewohner sind Teil der informellen Wirtschaft: Laut einer offiziellen Erhebung der indischen Regierung gab es im Jahr 2000 in den Städten Indiens im informellen Sektor 20 Millionen Unternehmen, die 40 Millionen Menschen beschäftigten, davon sind 20 Prozent Frauen.
Haben Menschen im Slum Freizeit?
Diese Frage habe ich mir gestellt, als ich zum ersten Mal vormittags durch einen Slum ging und Männer sah, die entweder Karten spielten oder einfach auf ihren Pritschen schliefen. Wieso sind die nicht von 8 Uhr morgens bis um 18 Uhr abends in der Arbeit und haben dann ihre Freizeit? Mit dem Wort Freizeit können die Menschen in den Slums nichts anfangen. Der Begriff ist nur tragfähig in Bezug auf eine organisierte, entwickelte Industriegesellschaft wie z.B. Deutschland oder Japan. In solchen Ländern ist Arbeit ein klar strukturierter Lebensbereich – mit Arbeitsvertrag, vereinbarten Löhnen, festgelegten Arbeitszeiten inklusive Urlaubsanspruch. Freizeit ist in diesem Zusammenhang der Lebensbereich, über den jeder frei bestimmen kann.
Weder in einer bäuerlichen Umgebung noch in einem marginalisierten Teil einer Industriegesellschaft, einem Slum, gibt es „Freizeit“ als Gegensatz zur Arbeitszeit. Es gibt kein Interesse der Arbeitgeber, die Arbeitskraft der Slumbewohner zu erhalten, weil sie keine festen Arbeitsverhältnisse schaffen. In der Regel sind die Menschen im Slum so etwas wie eine industrielle Reservearmee, die immer bei Auslastungsspitzen als Tagelöhner geholt werden. Da es so viele von ihnen gibt, muss man sich um den Einzelnen nicht kümmern: Es wäre unökonomisch.
Uli Schwarz